Eine Seminararbeit über Oscar Wildes The Importance of Being Earnest zum Thema Gesellschaftskritik zu schreiben, kann doch eigentlich nicht so schwer sein. Das Stück bietet in der Richtung doch einiges, was man wunderbar verwerten kann — Sollte man meinen…
Irgendwie stellt sich die Realität dann aber doch ganz, ganz anders dar. Zwar bietet der Earnest eine Menge ironischer Kritik sowie diverse Seitenhiebe und Sticheleien, aber die wirklich groben Schläge in Richtung ‚High Society‘ (bzw. Aristocracy) bleiben doch irgendwie aus.
Sicherlich auch ein Grund, weshalb das Stück seit nunmehr über 100 Jahren so erfolgreich aufgeführt wird, musste sich die Londoner Gesellschaft der Jahrundertwende (der vorletzten, is klar ne?) schließlich nicht übermäßig auf den Schlips getreten fühlen. Aber eben genau das macht es nun so schwer, die eigentliche Kritik an der damaligen Gesellschaft (und sicherlich nicht nur an der feinen) konkret fassen zu können. Man ist eben darauf angewiesen, aus kleinen Nuancen und auf den ersten Blick nur witzigen Abweichungen von der ‚Norm‘ mehr zu lesen und kleine Hinweise daraufhin zu untersuchen, ob nicht doch mehr hinter ihnen steckt.
Schauen wir, ob mir das gelingt…
Also, Martin, ein wenig verwunderst Du mich schon. Ich glaube, Deine naturwissenschaftliche Seele hat bei diesem Posting allzu sehr durchgeschlagen. Als Physiker z.B. habe ich den Luxus, Erkenntnisse oft klar und direkt aus Formel oder Experimenten abzulesen. Aber Ihr Germanisten bzw. Anglikaner, äh, Anglizistiker müsst halt auch mal zwischen den Zeilen lesen.
Ich habe anlässlich Deines Blogeintrags gestern abend im Bett nochmal im Ernest geschmökert und mich köstlich amüsiert. Ich hab ihn früher einmal gelesen und auch den ekzellenten und ganz herrlichen Film mit Colin Firth und Judi Dench vor einiger Zeit gesehen. Ansatzpunkt für Gesellschaftskritik hat er für mich jedenfalls immer genug geboten. Man nehme da nur das „Kreuzverhör“ von Earnest, durchgeführt von Lady Bracknell: „Do you smoke?“ – „Well, yes, I must admit I smoke.“ – „I am glad to hear it. A man should always have an occupation of some kind. There are far too many idle men in London as it is.“ Überhaupt ist die ganze Persönlichkeit Lady Bracknells eine große Gesellschaftskritik in sich.
Man kann sich sicherlich angesichts des Amusements in Wildes Stücken fragen, ob er damit überhaupt seiner Botschaft (der Gesellschaftskritik) gerecht wird. Immerhin soll Kritik in gewissenweise ja gerade auf den Schlips treten. Nur die Satire überspannt den Bogen ja so sehr, dass es wieder lustig wird. Satirisch ist Ernest aber auf keinen Fall. Es ist und bleibt eine Komödie, und auch noch mit Happy End! Wie furchtbar. Aber, wie sagt nicht die gute Miss Prism: „The good ended happily, and the bad unhappily. That is what Fiction means.“
Erstmal vorneweg: Wer den ganzen Tag vorm Computer hängt, *muss* doch irgendwie naturwissenschaftlich infiziert sein ;-)
Natürlich müssen wir Germanen und Angler auch irgendwie „zwischen den Zeilen“ lesen. Aber immerhin ist Literaturwissenschaft auch eine Wissenschaft, von daher muss man alles, was man so behauptet, auch anhand von passenden Textbeispielen beweisen können.
Es reicht eben leider nicht, nur zu sagen, dass Lady Bracknells Person schon eine Gesellschaftskritik ist – man muss es eben auch weiter ausführen und beweisen (nebenbei: Mit der guten Dame bin ich in meiner Arbeit schon einigermaßen durch, sie war sicherlich das geringste Übel. Probleme sehe ich eher z.B. bei den Frauen, aber das ist im echten Leben ja nicht anders ;-)).
Zu der Frage, ob Wilde mit der Komik im Stück nicht seiner „Botschaft“ gerecht wird: Wilde hat das Stück zum Zeitpunkt der Uraufführung ganz bewusst so komisch gestaltet, dass es möglichst wenig ‚aneckt‘ und gesellschaftskritische Tendenzen immer heruntergespielt. Er wollte damit der Kritik (oder gar dem Bann?) der Londoner Gesellschaft entgehen, in welcher er auf Grund seiner homoerotischen Tendenzen ohnehin nicht unumstritten war. Erst sehr viel später hat er die vorhandene Gesellschaftskritik ‚zugegeben‘ und auch verstärkt darauf hingewiesen. Er war sich des Problems also durchaus bewusst, hat sich aber wohl – der gesellschaftlichen Umstände halber – dazu gezwungen gesehen, es so und nicht anders zu schreiben (und es gibt sehr, sehr viele Vorversionen des Stückes, an welchen er immer wieder gefeilt hat – selbst noch, während es schon aufgeführt wurde).
Der Film mit Judi Dench, Colin Firth (und der Vollständigkeit halber: Rupert Everett (ganz großartig!), Reese Witherspoon und Frances O’Connor) ist übrigens wirklich toll, steht auf meiner DVD-Kauf-Liste mit ganz oben und wird sobald „Kiss Kiss, Bang Bang“ draußen ist mitbestellt :-)